Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wird EU-weit über noch härtere Sanktionen gegen die Russische Föderation diskutiert, weshalb auch immer wieder im Raume steht, vollständig auf russisches Erdgas zu verzichten. Doch auch Putin könnte Europa den Gashahn zudrehen. Die Folgen wären so oder so dramatisch.
Ein plötzliches Ende des Zustroms von Gas aus Russland hätte gravierende Auswirkungen auf die deutsche Industrie – zumindest kurzfristig. Da dieser Verlust nicht von einem auf den anderen Tag kompensiert werden könnte, käme es zwangsläufig zu einem Zurückfahren der Produktion in Betrieben. Auch eine vorläufig vollständige Schließung könnte nicht ausgeschlossen werden.
Wirtschaftsexperten des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) haben nun die wirtschaftlichen Folgen errechnet und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Industriestandorte im Süden und Westen Deutschland bezüglich der Wirtschaftsleistung und Beschäftigung deutlich größere Probleme bekämen als die Dienstleistungszentren in Hamburg, Berlin oder Frankfurt, auch wenn diese ebenfalls mit Einschränkungen zu rechnen hätten.
Folge 1: Bruttoinlandsprodukt würde um etwa zwei Prozent sinken
IWH-Vizepräsident Oliver Holtemöller äußerte in dem Zusammenhang: „Alles in allem müssten wir im Fall eines sofortigen Lieferstopps damit rechnen, dass das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 um rund zwei Prozent sinkt.“ Ohne Lieferstopp kommen die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnerisch auf einen Anstieg von gut drei Prozent.
In dem simulierten Szenario wird ferner davon ausgegangen, dass in der EU ab sofort kein neues russisches Erdgas mehr verwendet werden kann, wodurch der Erdgaspreis auf nahezu das Doppelte anstiege. Die Speicher wären dann zum Jahreswechsel 2022/23 leer, weshalb die industriellen Verbraucher ab Januar 2023 nicht mehr beliefert werden könnten.
Folge 2: Verlust der Bruttowertschöpfung + reduzierte jährliche Wirtschaftsleistung
All dies würde insgesamt in diesem und dem kommenden Jahr zu einem Verlust der Bruttowertschöpfung in Höhe von etwa 200 Milliarden Euro führen. Außerdem sei – so die Experten – mit einer reduzierten jährlichen Wirtschaftsleistung von mehr als sechs Prozentpunkten und einem vorübergehend deutlich verringerten Wohlstand zu rechnen.
Makroökonom Holtemöller merkt hinsichtlich der konkreteren Auswirkungen an: „Das Verarbeitende Gewerbe sowie die Wirtschaftszweige Bergbau und Energieversorgung wären besonders betroffen.“ Auf die klassische Industrie käme ein Rückgang der Bruttowertschöpfung von 14,5 Prozent zu. Generell gilt: Je höher der Industrieanteil eines Standorts, desto höher ist auch die Energieabhängigkeit.
Folge 3: Erwerbslosigkeit und Kurzarbeit für viele Beschäftigte
Besonders auffällig und dramatisch mutet folgende Zahl an: Bei sofortigem Importstopp von russischem Erdgas wären dem Modell der Ökonomen zufolge beinahe fast 2,8 Millionen Erwerbstätige direkt betroffen. Allerdings würden diese nicht vollständig in die Erwerbslosigkeit abgleiten, sondern könnten etwa über Kurzarbeit teilweise weiterbeschäftigt werden.
Ein etwaiger Beschäftigungsverlust würde in absoluten Zahlen in Berlin mit 106.000 Stellen am stärksten zu Buche schlagen. Westdeutsche Industriestädte wie Wolfsburg, Ingolstadt oder Salzgitter wären relativ gesehen hart getroffen: In Wolfsburg könnten fast 10 Prozent der Erwerbstätigen vom Produktionseinbruch betroffen sein.
Folge 4: Langfristige Preissteigerungen
Problematisch ist darüber hinaus, dass die Folgen eines potenziellen Lieferstopps von russischem Gas lange anhalten können. „Auch nachdem wieder ausreichende Mengen des Energieträgers zur Verfügung stehen, werden die Preise höher bleiben, als sie es vor der Unterbrechung waren“, so Holtemöller weiter.
Niedersächsische Unternehmen könnten Energieembargo wohl nicht verkraften
Am Beispiel Niedersachsen bzw. Hannover zeigt sich, dass ein Gasembargo für ganze Unternehmen das Aus bedeuten könnte. Die Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Hannover, Maike Bielfeldt, antwortet in einem Interview auf die Frage, ob die niedersächsische Wirtschaft einen Lieferstopp für russisches Gas verkraften könnte, eindeutig mit: „Stand heute: Nein.“
Dies hänge zwar von der Länge des Lieferstopps ab. Langfristig – und das könnte schon ab dem kommenden Winter bedeuten – könnten niedersächsische Unternehmen den Ausfall des russischen Erdgases nicht ersetzen, so die Expertin. Bielfeldt zeigt sich besonders besorgt um die Unternehmen der Chemie- und Stahlindustrie, die unbedingt auf das Gas angewiesen seien.
Deswegen wünscht sich die Hauptgeschäftsführerin der IHK von den politischen Entscheidungsträgern, dass ein Gasembargo vermieden wird.
EU-Mitgliedstaaten können sich bislang nicht auf Energieembargo verständigen
Unter anderem diese Bedenken dürften auch dazu beführt haben, dass sich in der EU bislang nicht auf eine umfassende Unterstützung für einen vollständigen Verzicht auf russisches Öl und Gas durch die Mitgliedstaaten verständigt werden konnte. Dies betreffe laut dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell ebenso alternative Sanktionen wie etwa einen Strafzoll auf russische Gas- und Öllieferungen.
„Einige Mitgliedstaaten haben sehr klar gesagt, dass sie ein Embargo oder einen Strafzoll auf russisches Öl oder Gas nicht unterstützen würden“, so Borrell wörtlich. Im Moment bestehe eine wesentliche Aufgabe der EU-Staaten darin, sich bezüglich der Energieversorgungssicherheit jeweils unabhängiger von russischem Gas zu machen. Bei den drohenden skizzierten Folgen ist die Notwendigkeit dieser Aufgabe klar nachvollziehbar.